18. Kapitel

 

Die Löwen lagen friedlich in ihrem Käfig. Violet konnte ihren Atem riechen und wusste, warum sie so ruhig waren: Sie hatten vor kurzem zu fressen bekommen.

Verrückterweise wünschte sie sich, einer würde sich an ihrer Anwesenheit stören und knurren.

Sie wollte knurren. Und schreien.

»Warum nur?«, brach es aus ihr hervor. Ein Löwe schnaubte missmutig.

Ismail. Sie hatte ihn endlich gefunden. Nein, das stimmte nicht. Er hatte sie gefunden. Und das alles wegen Patrick.

Sie umklammerte eine der Eisenstangen vor dem Löwenkäfig. Zwölf Jahre lang hatte sie sich ausgemalt, was sie tun würde, wenn sie den Mörder ihres Vaters endlich fände. Und nichts davon hatte sie in die Tat umgesetzt. Sie hatte sich von ihm ausrichten lassen, dass Angelica nach ihr suchte, und war gegangen.

Patricks Freund! Und aus der Art, wie die beiden miteinander umgingen, schloss sie, dass sie sehr gute Freunde sein mussten.

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte Mühe zu atmen. Alles drehte sich um sie, die Dunkelheit drohte sie zu verschlingen. Violet legte die Hände an ihren Hals und ließ sich auf den schmutzigen Boden sinken. Der kalte englische Wind peitschte ihr die Haare ins Gesicht und wirbelte alle Gerüche durcheinander.

Erde, Blätter, Steine, Rauch, Pelz, Fleisch, Heu, Zeltleinwand ... der Geruch der Artisten in ihren Wohnwagen drohte sie zu überwältigen.

Sie musste ruhig bleiben!

Violet griff unter ihren Rock und tastete nach dem Messer, das sie an ihren Oberschenkel gebunden hatte. Sie zog es heraus und wog es in der Hand. Das vertraute Gewicht beruhigte sie, erdete sie. Mit einem heftigen Stoß versenkte sie die Klinge in der weichen Erde.

Patricks Freund oder nicht, sie musste tun, was sie sich vorgenommen hatte. Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass es nicht leicht werden würde. Ihn gar bei der ersten Begegnung zu überwältigen, war höchst unwahrscheinlich. Er war ein Bluttrinker und besaß damit weitaus schnellere Reflexe als ein Mensch. Die Seherin hatte ihr erklärt, dass sie nur dann Erfolg haben würde, wenn es ihr gelänge, ihn zu überraschen. Und ihr Messer musste ihn mitten ins Herz treffen.

Sie musste sich Ismails Vertrauen erschleichen. Aber wie?

»Violet?«

Violet hob fassungslos den Kopf. Was hatte er hier zu suchen? Konnte er sie denn nicht einen Moment in Ruhe lassen? Sie musste nachdenken!

»Lass mich in Ruhe.«

Er bückte sich. »O nein, Liebes.« Seine Hände umschlossen ihre Oberarme, und er hob sie buchstäblich auf die Füße. »Du wirst mir jetzt sagen, was los ist, Violet. Steckst du in Schwierigkeiten?«

Was? Violet begriff nicht. Was wollte er? Wieso glaubte er, dass sie in Schwierigkeiten steckte?

»Ich weiß nicht, was du meinst. Und was du hier zu suchen hast. Die letzte Vorstellung ist längst vorbei.« Sie schürzte ihre Röcke und ging entschlossen zu den Wohnwagen hinüber. Sie musste es bis zu ihrem schaffen. Dann könnte sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen und hätte ihre Ruhe.

Er sagte nichts, wich aber nicht von ihrer Seite. Violet wurde noch nervöser. Vor den Stufen ihres kleinen Waggons blieb Violet stehen.

»Gute Nacht, Patrick«, sagte sie so bestimmt wie möglich und hob den Holzriegel. Er rückte nicht von der Stelle. »Verdammt!« Sie drehte sich zu ihm um, aber was immer sie auch sagen wollte, blieb ihr in der Kehle stecken, denn zum dritten Mal an diesem Abend hob er sie einfach hoch und kletterte mit ihr in den Wohnwagen.

Sobald er sie losgelassen hatte, um die Tür zu schließen, wich Violet stolpernd zurück. Die Tatsache, dass sie nicht aufrecht stehen konnte, machte sie noch verwundbarer. Sie strich unwillkürlich über ihren Rock. Ihr Messer! Sie hatte ihr Messer in der Erde stecken lassen!

»Suchst du das hier, Schatz?« Metall, Erde und Leder. Sie selbst hatte den Griff des Messers mit Lederstreifen umwickelt, damit es ihr nicht aus der Hand rutschte.

»Das ist zusammen mit deinem Kleid zu Boden gefallen, in der Nacht, als wir uns zum ersten Mal geliebt haben. Du trägst es immer bei dir, stimmt's?« Patrick klang zornig, und für einen Moment fürchtete Violet, dass er ihr auf die Schliche gekommen war.

Aber wie? Unmöglich! Er konnte nichts wissen. Aber er war ein Bluttrinker. Er konnte versuchen, ihre Gedanken zu lesen. Sie wusste zwar, was in so einem Fall zu tun war, aber ob sie es schaffen würde, lange genug an nichts zu denken...

»Ich will allein sein. Bitte geh.«

»Nein.«

»Warum nicht, verdammt noch mal?«

»Erst sagst du mir, was du für Schwierigkeiten hast. Ist jemand hinter dir her?«

Wie? Er glaubte, dass jemand hinter ihr her sei? War das der Grund für seinen Zorn?

»Niemand ist hinter mir her«, sagte Violet so ruhig wie möglich.

»Und wofür ist dann das Messer?«, fragte er zweifelnd. Violet, die gekniet hatte, richtete sich in eine sitzende Position auf.

»Zum Schutz.« Das war keine Lüge. Sie hatte es oft genug gebraucht, um sich irgendwelche Schurken vom Leib zu halten.

»Du brauchst kein Messer mehr«, sagte er, zog sie in seine Arme und begann sie zu küssen.

Violet kam überhaupt nicht auf den Gedanken, ihn abzuwehren. Es war zu herrlich, in seinen Armen zu liegen... Aber sie durfte jetzt nicht ihre Ziele vergessen!

»Patrick.« Sie versuchte sich von ihm loszumachen.

»Nein, Violet, Schluss mit den Ausflüchten.«

»Aber...« Er küsste sie erneut, machte es ihr unmöglich, klar zu denken. Wie von selbst machten sich ihre Finger an den Knöpfen seiner Jacke zu schaffen. Er war so warm, so herrlich warm, und sie fühlte sich... geborgen.

Was spielte es schon für eine Rolle, wenn sie nachgab?

Nur noch ein einziges Mal? Sie war feucht, und sie konnte sich nicht mehr beherrschen.

Sie begann an seinem Hemd zu zerren, wollte seine nackte Haut spüren. Erregt stöhnte sie auf.

Patrick hielt inne.

»Komm mit mir«, sagte er heiser.

Violet war hin- und hergerissen. Sie sehnte sich nach diesem Mann, mehr als nach allem anderen. Das allein war gefährlich genug. Wenn er ihr nun ans Herz wuchs? Er ihr nicht mehr gleichgültig war? Ach was, wem machte sie hier etwas vor? Er war ihr längst nicht mehr gleichgültig, sonst hätten die Tage ohne ihn nicht so wehgetan.

Nein, sie musste sich von diesem Bluttrinker fernhalten. Aber war er nicht die Antwort auf ihre Probleme? Durch ihn könnte sie es schaffen, Ismails Vertrauen zu gewinnen. Und wenn die beiden so gute Freunde waren, wie sie vermutete, würden sie viel Zeit miteinander verbringen. Auch sie würde dann Ismail öfter begegnen... ein perfekter Plan!

Wieso fühlte sie sich dann so schlecht? Als ob sie ein großes Unrecht beginge?

»Ich komme mit.«

Patrick hielt inne. »Wann?«

Jetzt, wo sie ihre Entscheidung gefällt hatte, konnte sie wieder klar denken. Sie hatte Ismail gefunden. Ihre nächsten Schritte mussten sorgfältig überlegt werden. Aber zuerst musste sie dem Detektiv absagen und ihre Sachen packen.

»Morgen, nach der Vorstellung.«

»Also gut.« Er küsste sie. »Bis morgen, Lady Violine.« Er flüsterte es zärtlich. Dann wandte er sich zum Gehen.

Ein köstlicher Schauder überlief Violet. Oh, sie betrat definitiv gefährlichen Boden...

»Bis morgen.«

 

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